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VR
MEDICUS
TREND.
Mitte letzten Jahres erschienen zwei sehr kritische Berich-
te zum Thema Personalisierte Medizin an sehr prominen-
ter Stelle. Werner Bartens überschrieb seinen Artikel in der
Süddeutschen am 19.07.2011 mit „Personalisierte Medizin:
die Mogelpackung“. Der zweite Artikel der Autoren Markus
Grill und Veronika Hackenbrock mit dem Titel „Das große
Versprechen“ erschien am 08.08.2011 im Spiegel. Es kommt
offensichtlich gut an, die Bemühungen um Fortschritt bei der
Behandlung schwerer Krankheiten als pure Geschäftemache-
rei zu diskreditieren. Ist die Personalisierte Medizin tatsächlich
eine „Mogelpackung“? Ist sie „nur“ ein Strategiewechsel der
Pharmafirmen „vom Blockbuster zum Nischenbuster“? Was
steckt hinter dem Begriff Personalisierte Medizin?
Es mag befremdlich anmuten, dass in der heutigen Schulmedi-
zin kaum „personalisiert“ behandelt wird, denn bei genauem
Hinsehen werden in erster Linie Krankheiten und erst in zwei-
ter Linie kranke Patienten behandelt. Der individuelle Patient
spielt dabei „hinter der Krankheit“ tatsächlich eine eher un-
tergeordnete Rolle. Das ist kein Vorwurf an die verantwort-
lichen Akteure, denn bisher gab es kaum Möglichkeiten, den
Patienten so in eine Therapieentscheidung mit einzubinden,
wie das eigentlich notwendig wäre. Kein Mensch gleicht dem
anderen, und bei genauem Hinsehen gibt es auch kaum iden-
tische Krankheitsbilder, wenn der Name einer Krankheit das
suggerieren mag.
Aus diesem Dilemma heraus werden Arzneimittel hinsichtlich
ihrer Wirksamkeit und Verträglichkeit statistisch für eine mehr
oder weniger große Testpopulation evaluiert. Das beinhaltet
aber eine erhebliche Unschärfe bezogen auf die Wirksamkeit
und Verträglichkeit für den individuellen Patienten. Wie soll
man wissen, ob ein Patient, der ein Medikament erhalten soll,
das nach einer statistischen Bewertung den meisten, aber
keineswegs allen, hilft, tatsächlich von diesem Medikament
profitiert und dieses Medikament auch gut verträgt?
Die Ursachen solcher individuellen Abweichungen von der
Norm sind Unterschiede in der genetischen Ausstattung der
Menschen. Um diese erkennen und deuten zu können, muss
in die Genome – also direkt in die Erbinformation – der Pa-
tienten geschaut werden. Und das ist heute möglich. Man
bezeichnet diese neuen Verfahren als „Molekulare Diagnos-
tik“ und sie bilden die Basis für die Personalisierte Medizin.
Personalisierte Medizin
Von der Behandlung von Krankheiten hin zur Behandlung von Patienten
Eine Ebene der Personalisierten Medizin hat gar nichts mit
der Krankheit zu tun, an der ein Patient leidet. Gemeint ist
die individuelle Genausstattung, die man ererbt hat und die
in jeder Zelle des Körpers vorliegt, die eine entscheidende
Rolle spielt. Daher kann die relevante Information auch aus
jeder Zelle bestimmt werden – aus Blut, Speichel, aus ein paar
Haaren oder einer Gewebeprobe. Hier werden DNA-Berei-
che analysiert, die beispielsweise die Information für Proteine
tragen, die eingenommene Arzneimittel chemisch verändern.
Das kann notwendig sein, um ein Arzneimittel für die Aus-
scheidung vorzubereiten. Das kann aber auch erforderlich
sein, um ein inaktives Arzneimittel – ein so genanntes Pro-
drug – im Körper zu aktivieren.
Auch bei der Behandlung von Tumoren werden personen-
bezogene Daten eine zunehmende Rolle spielen. Diese wer-
den aber nicht aus einer beliebigen Zelle des Patienten er-
hoben, sondern ganz gezielt aus dem Tumorgewebe. Denn
die genetischen Variationen, die hier relevant sind, wurden
nicht ererbt, sondern erworben. Wir werden erleben, dass
durch diese vertiefende molekulare Diagnostik die modernen
Krebsmittel deutlich besser werden, als sie bisher erscheinen.
Denn man wird diese Medikamente noch gezielter bei den
Patienten einsetzen können, denen sie wirklich helfen.
So wird die Personalisierte Medizin nicht nur notwendige
Therapien für bestimmte Patientinnen und Patienten effek-
tiver und verträglicher machen. Sie wird darüber hinaus auch
dazu beitragen, die immensen Gelder, die unser Gesundheits-
system mittlerweile verschlingt, effektiver einzusetzen. Hier
von einer „Mogelpackung“ zu sprechen, wird der guten Sache
nicht gerecht. Da ist es schon korrekter, von einem „Strate-
giewechsel“ zu reden, einem Strategiewechsel allerdings mit
sehr positiven Aspekten – für den Patienten ebenso wie für
das unter immensen Kosten ächzende Gesundheitssystem.
Theodor Dingermann
Hochschullehrer an der Johann Wolfgang
Goethe-Universität Frankfurt am Main